Wir haben euch alle sehr lieb

 
 

 

 

Timo Müller ist einer der Letzten,

die Michael Stahl noch lebend sehen. Es ist Donnerstag, der 27. Januar 2005. Müller steht vor seinem Haus in der Calvinstraße 13, Berlin-Moabit. Er tastet nach seinem Autoschlüssel, kann ihn nicht finden, blickt sich um: Sein Nachbar Michael Stahl liegt im Schnee unter dem Auto. Müller fragt ihn, was er in der Kälte mache. »Es ist etwas mit dem Auspuff«, sagt Stahl. Ein kurzes Gespräch, Stahl erzählt, er habe wieder Arbeit gefunden, auf Teneriffa. Seine Frau Monika und er würden in den nächsten Tagen aufbrechen, er müsse nur noch den Wagen in Ordnung bringen.
 
Timo Müller wundert sich kurz, so eine weite Reise mit dem Auto, das ist nicht Stahls Art, viel zu teuer. Müller löscht diesen Gedanken sogleich und konzentriert sich auf die Schlüsselsuche, Stahl schiebt sich wieder unter seinen silberfarbenen Opel Astra. Vier Tage später sind Michael und Monika Stahl tot. Vergiftet durch die Abgase ihres Autos. Sie wird 42, er 39 Jahre alt. Ein Ehepaar findet sie in einem Waldstück in Zerpenschleuse bei Berlin, kurz nach elf Uhr am Morgen des 31. Januar.
 
Timo Müller erfährt erst Wochen später vom Selbstmord seiner Nachbarn, aus einem Zeitungsartikel, der im Hausflur hängt. »Lieber tot als arm«, steht dort in dicken Buchstaben, die Zeitung zitiert aus einem Abschiedsbrief. »Wir krebsen durchs Leben und spulen monoton einen Tag nach dem anderen ab«, haben beide geschrieben. Und dann noch die Sozialreformen. Monika und Michael Stahl, die ersten Opfer von Hartz IV? Das Gesetz ist da gerade einen Monat alt.
 
Timo Müller hat sie ein wenig gekannt, die Stahls. Er hat ihnen die Wohnung in Moabit besorgt: Altbau, Hinterhof, vierte Etage rechts, drei Zimmer, 84 Quadratmeter, 570 Euro brutto warm. »Hier leben, lieben und streiten Monika und Michael Stahl«, steht an der Klingel. Vor die Tür hat jemand eine Rose gelegt, sie ist vertrocknet. Die Stahls hatten sich gut eingerichtet, Filmplakate hingen an den Wänden, kleine Nippes-Figuren schauten aus Vitrinen, zu Halloween dekorierte Monika Stahl die Zimmer mit Kürbissen und Kerzen, entsinnen sich ihre Cousinen.
 
 

Das Paar hat die Wohnung am Ende nicht mehr oft verlassen.

Monika nur, um zu ihrer Arbeit in einer Speditionsfirma zu fahren. Und Michael, um Billie, den Bullterrier, spazieren zu führen. Stahl war seit Jahren arbeitslos. Ausgegangen sind er und seine Frau selten. Zu teuer. Meist verbrachten sie ihre Abende vor dem Fernseher, zu zweit, allein. Die Stahls hielten Distanz. Ihr Heim wurde zum Rückzugsort, in das immer bedrohlichere Nachrichten von außen drangen. Seit Anfang des Jahres sorgten sie sich um ihre Wohnung.
 
Die neuen Regeln von Hartz IV: 84 Quadratmeter – zu groß für ein Paar ohne Kinder, 60 seien »angemessen«. »Angemessen« bedeutete Unsicherheit. Der Abschiedsbrief, den sie an die Cousinen und Kollegen geschickt haben, zeigt: Sie haben sich vieles ausgemalt. Wie es wäre, Wohnung, Auto und Arbeit zu verlieren. Es muss ein Leben im Konjunktiv gewesen sein, ständig das Schlimmste erwartend. Die Cousine erinnert sich, wie leer die Wohnung bei ihrem letzten Besuch wirkte, eine Woche vor dem Tod der beiden. Monika Stahl hatte gesagt, sie miste aus. Hätte sie nachfragen sollen?
 
 

Timo Müller hatte Michael Stahl noch ein paar Mal mit dem Hund auf der Straße gesehen.

Er wirkte nicht besonders glücklich, hielt den Kopf eingezogen, bewegte sich langsam. Seine Frau war immer auf Arbeit. Das Paar schien allmählich unsichtbar zu werden, vor den Augen von Familie, Kollegen, Nachbarn zu verschwinden. »Unauffällig« ist das Wort, was am häufigsten im Zusammenhang mit ihnen fällt.
Timo Müller hat Michael Stahl 1995 bei der Produktionsfirma Novafilm kennen gelernt. Müller arbeitete dort als Hilfskraft; Stahl war Set-Aufnahmeleiter bei Serien, kümmerte sich um Schauspieler, schmierte Brötchen, holte Kaffee, organisierte.
 
Müller erinnert sich an einen hageren Mann mit dünnem Schnurrbart; das Handy immer am Gürtel. Er beschreibt ihn als hilfsbereit, pünktlich, fleißig. Stahl sei ein sehr stiller Mensch gewesen, der die Gemeinschaft nicht suchte; er unterhielt sich kaum, schimpfte nur manchmal leise vor sich hin, wenn er glaubte, dass seine Arbeit nicht genügend geschätzt wurde. In der Filmwelt, in der sich alles nach außen richtet, dem Schein huldigt, ist er fremd bis zum Schluss. Eine Sehnsucht bleibt.
 
 

Später gründete Timo Müller seine eigene Firma und beschäftigte Stahl ab und zu.

Der Jüngere war nun Chef des Älteren, die Rollen hatten sich verkehrt. Sie drehten für den Musiksender MTV. Michael Stahl unter vielen jungen hippen Menschen. »Es passte nicht«, sagt Müller. Er bemerkte auch Stahls ständige Geldnot. Müller vermutete, dass Stahl immer über seine Verhältnisse lebte, viel in Kaufhäusern bestellte und Monika sich bemühte, den Schaden zu begrenzen.
Die Aufträge vom Fernsehen wurden seltener, irgendwann blieben sie aus. Bei Novafilm kann sich kaum noch jemand an Stahl erinnern. »Das ist in der Branche so«, sagt eine Mitarbeiterin. Schnell, intensiv, unverbindlich. Stahl war nie fest angestellt, immer nur für kurze Zeit. Er war jemand, für den niemand Verantwortung trug, den keiner kennen musste. Jederzeit ersetzbar. Viele leben inzwischen so. Immer bereit, total flexibel, ohne Sicherheiten. Stahl hatte die fetten Jahre der Bundesrepublik noch in Erinnerung.
 
Seiner Frau habe er zuerst nicht erzählt, dass er keine Jobs mehr bekam, sagt Hans Seck, ein ehemaliger Kollege Stahls.
Seck, in dessen Firma für Spezialeffekte Stahl manchmal aushalf, sieht nur ein Bild von ihm vor sich: wie Stahl irgendwo an einem Tisch sitzt und sich Zigaretten dreht. Schweigend. Seck wollte Stahl dieses Jahr anstellen, für vier Monate. Am Telefon hatte sich Stahl noch darüber gefreut. Anscheinend war es nicht genug. Als Seck ihm vergangenes Jahr schöne Weihnachten wünschte, antwortete Stahl: »Na, mal sehen.«
 
Seck hat eine Werkstatt am Rande Berlins, alles darin hat Stahl gebaut. Nach Größe geordnet, hängen die Werkzeuge an der Wand, die Umrisse jedes einzelnen hat Stahl mit Filzstift nachgezeichnet. »Er war handwerklich sehr begabt«, sagt Seck. Stahl hatte eine Tischlerausbildung. Seck betrachtet schweigend die Wand. Zu einem Kollegen habe Stahl einmal gesagt, wenn Hartz IV komme, lege er einen Schlauch ins Auto. Niemand nahm es ernst. Es gab Anzeichen. Vielleicht. Seck hat ihn öfter gesehen, bestimmt jede Woche mit ihm telefoniert. Befreundet waren sie nicht. Keiner meint, dass er mit Michael Stahl befreundet war. Nähe ließ er nicht zu.
 
 

Warum hat ihn seine Frau in den Tod begleitet?

Monika Stahl, die Freunde und Verwandte als resolut, dynamisch, als die Starke in der Beziehung beschreiben. Im Gegensatz zu ihrem Mann hatte sie Arbeit, war Chefsekretärin bei einer Spedition. Ihre ehemalige Chefin mag ihren Namen und den ihrer Firma nicht in der Zeitung lesen. Die beiden Frauen verstanden sich gut, waren fast gleich alt, und manchmal stellten sie sich vor, wie sie gemeinsam grau werden würden. Im Januar hatte Monika Stahl zwei Wochen lang Urlaub genommen. Weggefahren sind die Stahls nicht, sie sind nie weggefahren, nicht mal nach ihrer Hochzeit vor 15 Jahren. Monika Stahl hatte Diabetes, sie sollte auf Spritzen umgestellt werden. »Andere würden sich krankmelden«, sagt ihre Chefin. Erst am Montag, dem 31. Januar, dem ersten Arbeitstag nach dem Urlaub, fiel der Chefin auf, dass der Schreibtisch ihrer Sekretärin merkwürdig aufgeräumt war. Die Ablage sauber abgearbeitet, das Foto des Ehemannes verschwunden. Kurz darauf traf die Post ein, der Abschiedsbrief der beiden, ein persönliches Anschreiben und vier Seiten Anhang. Computerausdruck. Der Generalschlüssel der Firma folgte in einem Päckchen. Bis in den Tod war Monika Stahl so, wie ihre Chefin sie immer kannte: gewissenhaft.
 
Die Chefin begann darüber nachzudenken, was sie übersehen hatte. Sie wusste, dass Michael Stahl schon lange ohne Arbeit war und manchmal depressiv wirkte. Sie gab ihm hin und wieder Gelegenheitsjobs. »Micha lebt von den Brocken, die man ihm hinwirft«, steht im Abschiedsbrief. Sie hat Michael Stahl täglich gesehen, er brachte Monika zur Arbeit und holte sie wieder ab. Die Stahls, eine geschlossene Einheit. Monika Stahl hatte ihr auch von seinem Hartz-IV-Bescheid erzählt, er war falsch berechnet worden. Das Amt hatte 323 Euro an Unterhaltszahlungen von ihm für eine Tochter aus einer früheren Beziehung nicht berücksichtigt. Rund 430 Euro sollten sie jetzt bekommen, genau weiß das keiner. Einer anderen Kollegin sagte Monika, sie würden nach allen Abzügen von 25 Euro pro Woche leben müssen.
 
Die Chefin riet zum Widerspruch. Wie viel Monika Stahl verdiente, mag die Chefin nicht sagen; die Cousinen meinen, es seien um die 800 Euro netto im Monat gewesen. Monika Stahl gab die Lustige und machte Witze über Hartz IV: »Da subtrahieren sich viele selbst.« Sarkasmus duldet keine Nachfragen.
Auch im Abschiedsbrief scherzt sie ständig. Bis in den Tod wollten die Stahls den Schein wahren. »Wenn sie so viel Energie in den Widerspruch wie in ihren Selbstmord gesteckt hätten…«, sagt die Chefin. Eine Zeit lang ging es auch der Firma schlecht: wegen der Insolvenzwelle, der Maut. Monika Stahl spürte die Unsicherheit, fürchtete das Schlimmste. »Ihr Arbeitsplatz war nicht gefährdet«, sagt die Chefin. Zur Beerdigung ihrer Angestellten will sie nicht gehen. Ihr graut vor der Boulevardpresse.
 

 

Rolf-Peter Lange vom Bestattungsunternehmen Ahorn-Grieneisen

wartet auf dem Friedhof Pankow/Nordend auf die Angehörigen der Stahls. Es ist der 28. Februar. Schnee bedeckt die Gräber. Die Bild-Zeitung hatte sich kurz nach dem Tod des Paares bei ihm gemeldet und gefragt, ob Ahorn-Grieneisen die Bestattungskosten übernehme. Die Verwandten, zwei Cousinen und eine Schwester von Monika Stahl, könnten nicht zahlen. »Bei besonderen Härtefällen machen wir so etwas manchmal«, sagt Lange. Sie überführten die Stahls, bahrten sie auf, sodass die Familie Abschied nehmen konnte. Die Bild-Zeitung hatte ihre Geschichte. Auf den Fotos liegen die Stahls im Sarg. Berühmt für einen Tag.
Zum Begräbnis erscheinen Monikas Schwester, ihre Cousinen und deren Männer. Keine Freunde, keine Kollegen. Es ist, als habe es am Ende kaum Menschen mehr in ihrer Nähe gegeben. Ahorn-Grieneisen trägt die Kosten für die Grabpflege in den nächsten zwanzig Jahren.
 
 

Mit ihrer Schwester hatte Monika Stahl schon lange vor ihrem Tod gebrochen.

Keine schönen Erinnerungen. Die Cousinen sind die einzigen Verwandten, die bis zum Schluss mit ihr Kontakt hielten. Norma und Sandra Pfaffenroth. Die Stahls hatten wenige Tage vor ihrem Tod noch alle ihre CDs, Videos und DVDs zu Sandra Pfaffenroth gebracht. Sie sagten, sie wollten sie bei ihr unterstellen, da sie demnächst in eine kleinere Wohnung ziehen müssten. Sandra Pfaffenroth zeigt ein Foto der beiden, aufgenommen auf Normas Hochzeit. Monika Stahl trägt ihr Haar rötlich gefärbt. Locken, sie reichen bis zur Schulter. Ihre linke Hand ruht auf Michaels Schulter. Er hält einen Strauß Blumen in der Hand, lächelt schüchtern in die Kamera. Es wirkt, als sei er die Braut. Die Stahls haben vor 15 Jahren heimlich geheiratet. Monika rief danach die Cousinen an und sagte: »Ich bin jetzt auch eine Stahl.« Das war’s. Keine Feier, keine Reise, kein Foto. Als seien sie es nicht wert.
 
Kennen gelernt hatten sich die beiden beim Wachbataillon des amerikanischen Militärs in West-Berlin, Ende der Achtziger. Ein früherer Kamerad besitzt noch ein Foto von Michael Stahl aus jener Zeit. Darauf steht Stahl in Uniform, den linken Arm auf einen Holzzaun gestützt, ein Bein lässig eingeknickt. Im Gürtel steckt eine Pistole. Stahl schaut fordernd in die Kamera. Dieses Bild und das von Normas Hochzeit zeigen zwei verschiedene Menschen. Stahl bewachte das Hauptquartier der Amerikaner in Lichterfelde, eine gehobene Stellung. Gutes Gehalt, billige Wohnung, leckeres Essen – fast eine Vision vom Kommunismus im Westen. Stahl verbrachte fünf Jahre in Sicherheit. Bis 1993. Kurz vor der Auflösung des Bataillons wurde Michael Stahl noch zum Sergeant First Class befördert. Beim Abzug der Amerikaner gab es keinen Abschiedsstreich, sie wurden entlassen ohne Ruhm und Dank. Es war vorbei.
 
 

Monika und Michael Stahl stammten aus West-Berlin.

Michaels Eltern verunglückten, als er noch ein Kind war. Die genauen Umstände kennt niemand. Sicher ist, dass er bei seinen Großeltern aufwuchs. Monika und ihre Schwester wurden in einem Kinderheim groß. Ihren Vater haben sie nie gekannt, ihre Mutter nahm sich das Leben, als Monika acht war. Zwei elternlose Kinder. Gesprochen haben sie darüber nie, alles blieb im Vagen. Die Cousinen glaubten lange, Monikas Mutter sei an einem Hirntumor gestorben. Das Schweigen muss über die Jahre immer lauter geworden sein. Die Stahls führten ein Leben wie hinter Glas, sie konnten alle sehen, und alle sahen sie, aber erreicht hat sie schon lange niemand mehr. Sie haben es nicht zugelassen. In ihrem Abschiedsbrief schreiben sie: »Noch ein wichtiger Grund: Wir beide sind einsame Menschen.«
 
Die Cousinen beschreiben den Alltag der Stahls als eine Aneinanderreihung von Eintönigkeiten. Diese monotonen Tage aus dem Abschiedsbrief. Vielleicht war da Sehnsucht. Michael Stahl hatte früher beim Film die Nähe der Stars genossen, sammelte ihre Autogramme. »Die beiden konnten sich nichts gönnen, nichts leisten«, sagt Sandra Pfaffenroth. Ihr Luxus war der alte Opel Astra, Michael nannte ihn »Bienchen«. Die Lebensversicherungen hatten sie gelöscht, die Kreditkarten überzogen, Monikas Barbie-Sammlung bei eBay verkauft, ihren Schmuck versetzt. Schulden. Monika Stahl wünschte sich ein Kind, auch dieser Wunsch blieb unerfüllt.
 
 

Norma Pfaffenroth hatte sich zuerst gefreut,

als am 31. Januar der Brief von ihrer Cousine Monika eintraf. Die schrieb immer so lustig. In ihrem Abschiedsbrief listen die Stahls mehrere Fragen untereinander auf: Wo? »Wir haben uns für ein kuscheliges Waldstück entschieden.« In Zerpenschleuse hatten sie nach ihrer Hochzeit gewohnt, eine schöne Zeit. Wie? Ihre Selbsttötung sollte schmerzlos, schnell und sauber geschehen. Auch nach ihrem Tod mochten sie niemandem zur Last fallen. Wofür? »Alles was Michael und ich wollten, war ein ruhiges geordnetes Leben mit etwas Wohlstand.«
 
Die Cousinen sagen, Monika Stahl habe darunter gelitten, dass es ihrem Mann nicht gut ginge, dass er keine Arbeit finde. Um Hilfe hätten sie nie gebeten. Sandra und Norma Pfaffenroth fragen sich nun, ob sie öfter hätten anrufen sollen. »Hätte, hätte gibt’s nicht mehr«, sagt Sandra Pfaffenroth dann. Zum vergangenen Weihnachtsfest kamen die Stahls nicht zu Besuch. Sie sparten Spritkosten, der Bullterrier war krank, sein schwaches Herz. Der Hund ist jetzt tot. Er lag auf dem Rücksitz.
 
 

Im Brief schreiben die Stahls:

»Das Auto werden wir mit Sicherheit auch verlieren.« Die Wohnung. Ihre Zahnbehandlung. Die Zukunft eine Bedrohung. »Die neuen Reformen treffen uns schwer.« Hartz IV war der letzte Teil einer Kette von Enttäuschungen. Die Stahls schließen mit den Worten: »Wir haben euch alle sehr lieb. Moni und Micha.« Über die »i« haben sie schwarze Kringel gemalt. Die Reform ist jetzt fast ein halbes Jahr alt, der Berliner Senat berät noch immer darüber, was »angemessen« genau bedeutet, Umzugswellen wegen Hartz IV sollen vermieden werden, am Ende hätten die Stahls ihre Wohnung vielleicht behalten können.
 
Sie haben die Cousinen in ihrem letzten Brief gewarnt: Bloß nicht das Erbe annehmen! Es sollen um die 80000 Euro Schulden sein. Es klingt nach teuren Leidenschaften. Was haben die beiden, die sich nie etwas gegönnt haben, mit dem ganzen Geld gemacht? Michaels Vergangenheit, heißt es dann. Er habe nie mit Geld umgehen können. Die Cousinen sagen, da sei auch noch die Tochter. Von ihm. Sie haben sie nie gesehen, kennen nur ihren Vornamen. Vanessa.
 
 

Die Tochter von Michael Stahl wird plötzlich wichtig.

Sie muss das Erbe ausschlagen, erst dann kann der Vermieter die Wohnung auflösen. Die Schulden steigen weiter. Geld arbeitet auch nach dem Tod. Es vergehen drei Monate, bis das Gericht die Tochter findet.
Vanessa ist 16 Jahre alt und hat das dunkelblonde Haar ihres Vaters. Ihre Mutter Christa lernte Michael Stahl in den achtziger Jahren kennen. Zwei Jahre lang blieben sie zusammen. »Er hatte immer Geldprobleme«, sagt die Mutter. Einmal räumte er ihr Konto leer, einmal kaufte er sich plötzlich ein teures Auto, trat in Kaschmirmantel und mit Designerbrille vor ihr auf. Sie vermutete, dass er spielte. »Ich war überfordert«, sagt sie. Dann wurde sie schwanger, im vierten Monat trennte sie sich von Michael Stahl. Für ihn muss es schlimm gewesen sein. Seine Tochter sah er noch einmal kurz nach der Geburt.
 
 

Vanessa war ein schwieriges Mädchen,

schwänzte die Schule, lief von zu Hause weg. Als sie zwölf war, wollte sie ihren Vater kennen lernen. 2003 rief Vanessas Mutter Michael Stahl an. Zwei Tage darauf stand er unangemeldet in der Tür. Später trafen sich Vater und Tochter, Monika war dabei. Vanessa sollte so tun, als sähe sie ihren Vater da zum ersten Mal. Sie mochte die beiden, besonders Monika, die ihr zeigte, wie man sich schminkt. Irgendwann stellte Vanessa ihrem Vater Fragen wegen der Lüge zu Beginn. Daraufhin meldete er sich nicht mehr. Vielleicht wusste er einfach nicht, was er mit diesem wilden Mädchen anfangen sollte, das so jäh in sein Leben getreten war. »Er hat sich benommen wie ein kleiner Junge«, sagt seine Tochter.
Im Januar dieses Jahres telefonierte Vanessa das letzte Mal mit ihm, er hatte keinen Unterhalt gezahlt, gesehen hatten sie sich schon seit zwei Jahren nicht mehr. Sie wollte ihm eigentlich noch sagen, dass sie schwanger ist, dass er Opa wird. Dazu kam es nicht mehr. Sie hat vom Gericht über den Tod ihres Vaters erfahren. Es war ein komisches Gefühl. Vermissen kann sie ihn nicht. »Da war nicht viel da zwischen uns.« Einen Abschiedsbrief hat sie nicht bekommen, alle Fotos von ihm sind beim letzten Umzug verschwunden. Die Stahls sind fort.


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